Heute vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet. Die darin festgelegten Grundrechte sind sicher große Errungenschaften. Aber können die Grundrechte weiter gestärkt werden? Und waren die Grundrechte vor 75 Jahren sogar stärker als heute?
Eines vorweg: Dieser Text wird ermöglicht durch Artikel 5 des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]“ Ich kann mich glücklich schätzen dieses Recht in Deutschland ausüben zu können wie andere natürlich das Recht haben, meinen Worten zu widersprechen oder zuzustimmen. Nicht überall auf der Welt gilt die Meinungsfreiheit wie in Deutschland und gerade die Meinungs- und die Pressefreiheit aus Artikel 5 gehören für mich zu den wichtigsten und schützenswertesten Grundrechten. Deshalb finde ich es erfreulich, dass der Artikel 5 des Grundgesetzes noch Wort für Wort genauso im Gesetz steht wie vor 75 Jahren aufgeschrieben.
Modernisierung der Grundrechte
Für mehrere Artikel des Grundgesetzes gilt dies nicht mehr. Schauen wir uns beispielsweise mal den Artikel 3 an. In ihm ist die Gleichberechtigung festgelegt. Absatz 1 lautet genauso wie vor 75 Jahren: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Im zweiten Absatz wurde aber hinter „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ noch ergänzt, dass der Staat die Durchsetzung der Gleichberechtigung fördert. Ein Fortschritt? Für mich sicher und für viele andere auch. Man kann aber in diesem zweite Absatz bereits Reformbedarf sehen: So wird dort nur von Männern und Frauen gesprochen, es gibt jedoch mittlerweile neben den Geschlechtseinträgen männlich und weiblich auch den Eintrag divers. Und schon beim dritten Absatz des Artikels 3 kann man überlegen, wie zeitgemäß oder passend der Begriff „Rasse“ ist, wenn geschrieben wird, dass niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf. Zu ergänzen sei hier noch, dass im Unterschied zur Urfassung erfreulicherweise noch ein zweiter Satz ergänzt wurde: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Vereinzelte Einschränkungen der Grundrechte?
Wer aber das Grundgesetz gut kennt und aktuelle politische Diskussionen verfolgt, weiß, dass die Gleichberechtigung von Männern und Frauen nicht überall gilt. In Artikel 12a sind für Männer und Frauen unterschiedliche Verpflichtungen im Bereich der Wehrpflicht vorgesehen. In der Urfassung des Grundgesetzes stand die Wehrpflicht nicht drin, wohl aber in Artikel 4 die Möglichkeit den Kriegsdienst zu verweigern. Mittlerweile wird wieder über die – derzeit ausgesetzte – Wehrpflicht diskutiert und darüber, in welcher Form sie wieder eingeführt werden sollte. Dennoch stehen die unterschiedlichen Pflichten weiterhin im Grundgesetz und sogar im neuen Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag, das bereits beschlossen, aber noch nicht verkündet ist (Stand: 23.05.2024), gibt es eine Sonderregel zur Wehrpflicht im Spannungs- bzw. Verteidigungsfall. Es wäre meiner Meinung nach ein gutes Zeichen für Gleichberechtigung gewesen, wenn diese Regel weggelassen worden wäre.
Wer das Grundgesetz in der heutigen Fassung mit der Urfassung vergleicht, wird noch weitere Änderungen im Bereich der Grundrechte, der ersten 19 Artikel, finden. Ein Teil davon hat mit den sogenannten „Notstandgesetzen“ aus dem Jahr 1968 zu tun, die damals sehr umstritten waren. Damals wurde beispielsweise Artikel 10 geändert. Hieß es ursprünlich einfach: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden.“, steht mittlerweile folgendes dahinter: „Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.“
Eine weitere bemerkenswerte Änderung findet sich in Artikel 16. Die Urfassung des Absatzes 2 lautete: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Das Asylrecht findet sich mittlerweile in Artikel 16a. Artikel 16 Absatz 2 lautet seit einer Änderung im Jahr 2000 wie folgt: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“
Schauen wir noch in Artikel 13. In Absatz 1 heißt es zunächst „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Dabei blieb es aber schon in der Urfassung von 1949 nicht. Zwei weitere Absätze schränkten das Grundrecht schon ein, um beispielsweise Durchsuchungen zu ermöglichen. Im Jahr 1998 wurden vier weitere Absätze eingefügt.
Grundrechte sollten den Bürgern dienen
Während einige der Änderungen in den vergangenen 75 Jahren die Rechte der Bürger klar stärkten, wurden an anderen Stellen Grundrechte eingeschränkt. Ich fände es schön, wenn in öffentlichen Debatten deutlicher würde, dass die Grundrechte Rechte für die Bürger sind und dass man sie als Abwehrrechte verstehen sollte. Bei Horst Pötzsch heißt es:
„Grundrechte […] sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“
Horst Pötzsch – Quelle: https://www.bpb.de/themen/politisches-system/deutsche-demokratie/39294/grundrechte/
Die Grundrechte sind also für die Bürger im Land – einige Grundrechte für alle Menschen im Land – da. Gerade weil die Grundrechte eine so große Bedeutung haben, sollte genau geprüft werden, wie sinnvoll die Änderungen des Grundgesetzes im Bereich der Grundrechte waren – egal ob beim Briefgeheimnis, bei der Unverletzlichkeit der Wohnung oder bei Auslieferungen – sodass diese, falls sinnvoll, rückgängig gemacht und die Grundrechte gestärkt werden können.
75 Jahre Grundgesetz sind ein Grund zum Feiern. Aber das Jubiläum kann und sollte ein Anlass sein darüber zu diskutieren, wo Reformbedarf besteht und wo bisherige Reformen vielleicht zu weit gingen. Die Grundrechte sind ein Geschenk und wir sollten sie so gut es geht erhalten.