Hören, Glauben und Recherchieren

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Mit Radio- und Fernsehsendungen kann ich normalerweise gut einschlafen. Heute Nacht hat das überhaupt nicht geklappt.

Letzten Samstag hab ich die evangelische „Morgenandacht“ im Deutschlandfunk gehört. In der Mediathek, denn um 6:35 Uhr bin ich oft nicht wach. Darin ist in Ausschnitten ein Lied zu hören, das mir zwar bekannt vorgekommen ist, aber das ich nicht gut kannte. Aus dem einfachen Grund: Ich höre eher selten diese Chartsdudler mit enger Musikrotation. Das Lied: „Wenn sie tanzt“ von Max Giesinger. Aufgrund der langen Zitate des Songs hab ich gedacht: Interessant, so viel Popmusik morgens im DLF. Ich weiß sogar noch: ich setzte mich in diesem Moment aufs Sofa. Lied vorbei, umschalten.

Ich hatte gar nicht vor, mich an diesen Moment so genau zu erinnern, aber es ist dann doch passiert: Montag wurde es wieder mal Zeit für den Podcast des Medienmagazins von radioeins. Gleich zu Beginn Zitate von Böhmermann und Campino. Ehrlich gesagt, ich mag weder die Sendung von Jan Böhmermann noch die Musik von Sänger Campino. Aber in einem Punkt muss ich diesmal Campino Recht geben: Natürlich kann sich Musik sozial einsetzen. Der zitierten Beleidigung kann und will ich auf keinen Fall zustimmen. Um die Kritik von Jan Böhmermann zu verstehen, musste ich mir erstmal die 22 Minuten zum Thema Musik aus seiner Sendung vom 6. April anschauen. Gleich vorweg: Bei der Sache mit der Schleichwerbung gebe ich Jan Böhmermann völlig Recht. Schleichwerbung sollte nicht in Musikvideos vorkommen! Aber er kritisiert noch mehr: deutsche Popmusik am Beispiel der Musik von Max Giesinger. So zitiert er die Titel „80 Millionen“ und „Wenn sie tanzt“ – also damit auch den Titel, der einige Tage später in der „Morgenandacht“ im DLF zu hören sein würde. Böhmermann kritisiert, dass die deutsche Popmusik keine politischen Standpunkte beziehen würde. Ich finde: Muss das Musik denn? Erlaubt die Kunstfreiheit nicht viel mehr, dass man sich aussuchen kann, ob man nur beschreibt oder kritisiert?

Von Journalismus wünschen sich viele Neutralität, warum sollte dann ein Lied nicht einfach beschreiben dürfen? Im Lied „Wenn sie tanzt“ werden Schwierigkeiten einer alleinerziehenden Mutter erzählt. Muss in so einem Song unbedingt erklärt werden, wie genau man Alleinerziehenden helfen kann? Ich finde: Nein! Ein Lied ist keine Ratgebersendung! Und das Tanzen ist natürlich keine Lösung, die das Leben für Alleinerziehende leichter macht. Aber der Frau im Song bringt das Tanzen eine Pause vom Alltag. So verstehe ich das Lied. Im Video sieht man zusätzlich, von was sie träumt: Von schönen Landschaften und einem Abend mit Freundinnen. So sieht man sie beispielsweise in Berlin am Märchenbrunnen und an der Straßenbahnhaltestelle „Am Friedrichshain“ (Ja, das hab ich extra recherchiert!).

Reicht ein solches Video, um sich zum Thema selbst eine Meinung zu bilden? Kann es Gefühle auslösen? Ja sicher! Dafür empfehle ich einfach mal die „Morgenandacht“ nachzuhören! Da erzählt die Pfarrerin, was das Musikvideo bei ihr und einem Mädchen auslöst.

Böhmermann hat dann noch eine Parodie zu Giesingers Musik aufgenommen mit dem Titel „Menschen Leben Tanzen Welt“. Da hat er ganz richtig erkannt, welche Themen oft in Musik vorkommen. Und Parodien mag ich eigentlich. Beispielsweise „How to write a love song“ der australischen Gruppe „Axis of Awesome“. Aber diese Parodie geht etwas zu weit finde ich: Von Affen ausgewählte Zitate zusammengesetzt zu einem Songtext. Ein Text mit wenig Zusammenhang. Das ist bei Giesinger überhaupt nicht der Fall. besonders im Tanz-Song wird eine Geschichte erzählt, keine Sprüche aneinandergereiht! Böhmermann bemängelt, dass die Lieder nicht politisch seien. Warum macht er dann kein Positivbeispiel? Ich hab vier Songs aus den aktuellen Charts – also 4 aus 99 – ausgewählt. 99, da ich das Lied von Jan Böhmermann ja nicht mit sich selbst vergleichen kann. Alle vier Songs hatten eine einfache Melodie. Aber keines hat einen annähernd so zusammensetzten Text wie der Song von Böhmermann. Sie alle erzählen eine Geschichte.

Ich finde, es war auch ein Fehler, dass das Lied bei Jörg Wagner im Medienmagazin von radioeins zu hören war. Hat Jan Böhmermann nicht schon genug Aufmerksamkeit? Und wenn er den Musikpreis „Echo“ so sehr kritisiert: Warum will er dann, dass die Affen, die den Text für seinen Song auswählten, einen Preis bekommen?

Und jetzt etwas ganz, ganz persönliches: Normalerweise kritisiere ich selbst ständig: Mal die Medien, mal, wenn Leute Nachrichten nur von facebook statt aus gedruckten Zeitungen oder von Privatsendern statt von der tagesschau beziehen. Ich rede Unterhaltungssendungen schlecht und sage anderen: Warum guckt ihr so einen Blödsinn? Aber: Ich lasse mir keine Musik schlechtreden, die schön klingt! So viel Schönes muss sein! Das Lied ist schön, das Video ist schön. Es sorgt für Gefühle und Gespräche. Es zeigt ein Thema, ohne eine Meinung strikt vorzugeben. Es lädt zum Nachdenken ein. Daher: Danke an Max Giesinger und alle, die an dem Musikvideo mitgewirkt haben! Danke an Pastorin Claudia Aue für diese gute Morgenandacht! ich werde weiterhin regelmäßig die Sendungen der evangelischen Kirche im Radio hören und weiterhin regelmäßig die Sendungen von Jan Böhmermann nicht schauen. Für das Lied „Wenn sie tanzt“ hab ich mittlerweile 1,29 Euro ausgegeben. Jetzt kann ich es mir immer wieder anhören. Immerhin 21 Cent davon gehen an den Staat. Hoffentlich wird der Betrag gut investiert. Steuern zahlt man für das Lied von Jan Böhmermann auch, aber ich finde: das von Max Giesinger ist viel schöner.

Dank Jörg Wagner und Jan Böhmermann bin ich jetzt Fan eines Songs von Max Giesinger und einer Morgenandacht von Claudia Aue. Ob das so gewollt war?

 

Quellen:

vevo.com: Musikvideo „Wenn sie tanzt“ von Max Giesinger

zdf.de: Böhmermanns Kritik an der Musikindustrie

evangelisch.de: Morgenandacht von Claudia Aue

radioeins.de: Medienmagazin mit Jörg Wagner

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